LATENT GEGENWÄRTIG, Essay,
2021.
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Latent gegenwärtig oder wie die Pandemie das Unbekannte berührt
von Swantje Lichtenstein
Gegenwärtig ist Vieles latent. Die Verzögerungszeit, die zwischen dem Auftreten eines Ereignisses (oder physikalischem Veränderung) und dem auf das Ereignis erwartete Folgeereignis vergeht bezeichnet man als Latenz (latency effect) . Es ist eine Zeit, die benötigt wird einen Weg zurückzulegen, eine Verbindungsstrecke zu überwinden, ein Signal zu übertragen. Auf diesen Wegen werden Pakete gepackt, Wegbreiten verändert, es kann zu Staus und Unfällen kommen. Im Moment hat hat sich unsere Gegenwart verschoben und das nicht nur auf der Ebene des klanglichen oder kommunikativen Datenverkehrs. Die Latenz in seinen vieldeutigen Bezugsmöglichkeiten ist ein Begriff, den ich im letzten Jahr so häufig wie nie gehört habe, als Herausforderung, als technisches Phänomen, als Hinderungsgrund, als Möglichkeitsform, im momentanen Übergangsraum, in dem Vieles in einer prozessuralen Passage passiert, in der wir zwar alle zugleich sind, aber nicht synchron oder zeitgleich. Die Klagen kommen gehäuft dort, wo der latency effect auch noch unfreiwillig das kollektive Musikmachen beeinträchtigt, ungewollte Echokammern, Wiederhall und Widerstand, dauernde Delays, Pausen, akustische Zeitverschiebungen, visuelle Glitches. Persönlich mag ich diesen Widerstand, die Spannung, das Unerwartete, Unbekannte, das was uns überrascht, das, was das vermeindlich Normale, Richtige überwindet, aber darum bewege ich mich natürlich auch im sogenannten experimentellen Bereich der Künste, dort wo die Kunst und Musik, der Klang und die Sprache dazu dienen etwas über die Welt, in welchem Zustand sie sich auch befindet herauszufinden und abzurücken von unseren Erwartungen und dem, was wir kennen.
Die Latenz wird historisch auch in Europa als Grundbedingung für die Kunst betrachtet, die darin besteht sich selbst als Verfahren zu verbergen, so schreibt Ovid im 10. Buch der Metamorphosen: „ars adeo latet arte sua“ („so verbirgt durch die eigene Kunst sich die Kunst“)[1]. Die Latenz als ein Aspekt der Verborgenheit beinhaltet zwangsläufig und offensichtlich etwas, das die Kunst ausmacht und eröffnet. Aktualiter werden wir in einen Zustand versetzt, der uns jedoch oft glauben macht, wir könnten uns selbst beim künstlerischen Handeln beobachten, da wir uns auf Bildschirmen und abgefilmt von Kameras selbst ansichtig werden können. Dennoch werden auch diese Hervorbringungen in jedweder künstlerischen, poetischen und musikalischen Form als Verfahren wohl noch nicht ansichtig, wir bemängeln momentan nur unsere Unfähigkeit dort fortzufahren, wo wie aufgehört haben und noch lange nicht bereit waren fertig zu sein, die Pandemie zwingt uns in einen Transitraum, der uns an die Grenzen des Vorstellbaren, des Absehbaren, des Bekannten führt.
Ein latenter Raum, in dem weltweit so Einiges in Stocken gerät, sich verzögert, unaufhaltbar ist, unerklärbar, verdeckt und verborgen. Ein Raum, in dem wir uns zudem gleichzeitlg und gemeinsam befinden, in dem wir uns aber nur nach und nach zurechtfinden, ihn entdecken, interpretierbar machen, beleben, um „das Unvorhersehbare zu kennen, bedeutet, sich auf die Gegenwart, seine Gegenwart, in der man lebt, auf neue, nicht mehr empirische oder systematische, sondern auf poetische Weise einzustimmen“ schreibt Éduoard Glissant[2], der die Kultur und Poetik der Vielfalt auf der Grundlage der Beziehungen und nicht der Identitäten bestimmte. Die Beziehungen, der Verbindung und Verbündnisse, die auch durch das Unbekannte, das Komplexe, die Opazität, also auch das. was wir nicht oder noch nicht kennen, entstehen kann, als Chance und als eine Art Kulturentwicklungsplan, den wir dringend nötig haben.
Also vor 100 Jahren die letzte globale Grippe-Pandemie wütete, war es noch nicht möglich zeitgleich Zugänge zu schaffen, in Verbindung zu bleiben mit der Welt, auf einer medialen, digitalen Ebene. Dies macht Dinge einfacher und komplizierter zugleich, da es latent unklar ist, wie wir damit umgehen sollten. Da wir uns zwar relational verbinden können und doch nicht unbedingt verstehen. Eine Folge des omnipotenten Verstehenwollens zeigte Susan Sonntag mit Against Interpretation bereits 1961 auf: „die zeitgenössische Begeisterung für die Interpretation hat ihren Grund häufig nicht in der Ehrfurcht vor dem beschwerlichen Text [...], sondern in einer offenen Aggressivität.“[3] Die Auslegung und Notwendigkeit der Interpretation einer kulturell gänzlich neuen Situatution droht leicht offen übergriffig zu werden, dann geschieht es ihr wie einem Text, der schwer zu lesen ist, es tritt ihm eine Abwehr, ein Kampf und der Versuch alles in bekannte Bahnen zu lenken, entgegen. Dabei bietet die überragend-überraschende Situation, in die uns die Pandemie alle unvorbereitet gebracht hat, auch künstlerische, musikalische Möglichkeiten, wenn auch ohne Zweifel Einiges nicht überleben wird, vielleicht auch Einiges, was sich bereits länger schon überlebt hat oder Rezeptionsmöglichkeiten ausloten möchte, die in einer machenden, poietischen Form liegen, wie in Adornos bekanntem Diktum: „Sprache interpretieren heißt: Sprache verstehen; Musik interpretieren heißt: Musik machen“. [4]
Ohne das sprachliche Verständnis der aktuellen Situation, ergibt sich das Moment des Poietischen, des Machbaren, es könnte die Poesie sein, die zwischen Musik und Sprache steht und weiterhilft, oder wie Audre Lorde schreibt: „Die Poesie ist die Art, wie wir dem Unbenannten Namen geben, so dass sie gedacht werden kann.“[5] Die Poesie als die latente Sprache für das, was verzögert und als Widerhall dieser Zeit sich entgegen, und zugleich an die Seite stellt, ist eine Beziehungsstifterin, Verbindungsglied und semipermeabler, semi-kommunikativer Akt.
Deutlich ist, dass es eine Vielzahl poetischer und technischer Möglichkeiten gibt miteinander zu sprechen, zu singen, Musik zu machen, zu protestieren, aber dennoch haben wir nur latent eine Ahnung davon, wie das geht, da wir körperlich wenig Erfahrung damit haben, da unsere Instrumente, unsere Stimmen, unsere Körper, unsere Performances und Konzerte sich erst mit einem heftigen Verzögerungseffekt an diese neue Realtität anzupassen versuchen, latent in die Lage geraten einen ganz neuen Raum zu bespielen, mit all seinen technischen Herausforderungen, Möglichkeiten und Versuchungen.
Dieser Prozess des Tastens, des Berührens und verzögerten Aneignens in einer gänzlich neuen Umgebung, die uns als professionelle Musiker:innen und Künstler:innen, ob nun erfahren oder nicht, bedrohlich erscheint, da sie unbekannt ist und das Unbekannte selbst in den avanciertesten, experimentellsten und improvisationsgeschulten europäischen Kontexten häufig noch als Bedrohliches entgegentritt. Dabei liegt in diesem Moment des Beginnens, des Neuansetzens, des Ein- und Ausatmens, der Differenz und des Delays oder der Pause eine große Wichtigkeit und ein sonniger Glanz. Eine Anordnung, die anders montiert wird, neu (ab-)mischt und Bekanntes mit Unbekanntem verbindet.
Der holländische Geschichtstheoretiker Eelco Runia schreibt, der Kern der Latenz sei sein Wissen und seine Sicherheit darüber, dass ein Körper oder ein Gegenstand da ist, obwohl er momentan nicht wahrnehmbar ist, obwohl wir keine Kenntnis darüber haben, wo und was es ist. Der Kulturtheoretiker Hans Gumbrecht, der sich seit vielen Jahren mit der westlichen Tradition um den Begriff der Latenz beschäftigt fasst es folgendermaßen zusammen: „was latent ist, das kann aus vorausgehender Gegenwärtigkeit verschwunden, aber auch nie wahrnehmbar gewesen sein.“ Und weiter „die Verfugung von „Latenz“ und „Stimmung“ [sind] besonders wichtig. Es sind Stimmungen als Ahnung - Variante der leichten Berührung der physischen Umwelt auf unseren Körpern, wie sie uns verschiedenen affektive Dispostionen auferlegen - es sind Stimmungen als Ahnung, welche uns Gewissheit von Latenzsituationen geben und manchmal, oft ganz überraschend, unsere Blicke auf das Latente lenken.“[6] Das Latente ist also nichts, was in der Zeit der Pandemie erst entstanden wäre, es wird nur in deutlicherem Ausmaß sichtbar und hörbar, auch für die, die vorher sich im bekannten, sicheren Räumen wähnten.
In der elektronischen Musik spielt der Moment der Verzögerung schon lange eine wichtige Rolle, so schreibt eine der Pionierinnen Eliane Radiques “Zeit hat keine Bedeutung. Alles, was zählt ist die Dauer, die für eine nahtlose Entwicklung nötig ist."[7] Die suptile Manipulation erreiche ein Gespräch mit den Klängen und dem Zischen dazwischen, die eine verzögerte Verschiebung der von Radigue hergestellten Delays ausmachten. Die Idee diese Verzögerungen und Verschiebungen neu zu montieren und zu mischen transformierte die musikalische Idee der Instrumentierung und der Komposition in so erheblichem Maße, dass wir sie nicht mehr wegdenken könnten.
Wir leben immer in einem Zwischenraum, zwischen Zuständen, nicht mehr dort, noch nicht hier, die Grenze ist ein Übergang, der nicht wahrnehmbar sein muss und doch da ist, latent. Das formulierte schon das Tibetanische Buch der Toten (Bardo Thödröl)[8]. Der Übergang schafft Beziehungen, in verschiedene Richtungen, in Zusammenhängen von Klängen, fortschreitend in der Dauer, anhaltend in den Tönen und den Pausen dazwischen. Wie beim Ein- und Ausatmen. Wir können die Luft nur ein kurzes Weilchen anhalten, um dann stoßartig aus- und einzuatmen.
Und so vertraue ich fest darauf, dass diese Zeit etwas bewegen wird, was wir in der momentanen Trauer über die verpassten, verlustig gegangenen Konzerte, Auftritte, Zusammenkünfte und das musikalische und künstlerische Miteinander noch nicht sehen können, was aber dennoch bereits in der Entwicklung und im Entstehen ist, und wichtige Wechsel hervorbringt, in einer Loslösung des/der Echos eines nicht unproblematischen Künstler:innentums, eurozentrischer und identitärer Kulturmodelle, die Notwendigkeit einer Idee der Weltgemeinschaft, nicht durch das Leiden am Virus verbunden, sondern durch eine größere Offenheit, Annahme, Beziehungsfähigkeit und Verbindung von Menschen und Kulturen, die latent immer schon zusammengehörten.
Die Nymphe Echó jedenfalls hat aus der Not eine Kommunikationsmodell entwickelt, durch den Einsatz des Halls ihrer Stimme in der Form der Poesie, die amerikanisch-koreanisch Künstlerin Theresa Hak Kyung Cha poetisiert dies so „Sie [die Stimme] ist die erste, die ihre Ankunft bekannt gibt. Die Stimme der Vorwegnahme. Sie wünscht sich, dass sie das Andere metamorphisieren würde. Die Stimme alleine durch ihr Bitten einer unerklärlichen Kraft. Des Wünschens. Heftig genug wünschen. Sie wünscht sich, dass die Person in das zurück metamorphisiert würde, was sie vorher war, erfindet, wenn nötig. Es braucht weniger Zeit, um zu bemerken, dass es keine magische Verschiebung gab.“[9] Das könnte ein tröstlicher Gedanke sein.
[1] Publius Ovido Naso: Metamorphosen, lateinisch-deutsch, übersetzt von Niklas Holzberg, Berlin 2017, 10.252)
[2] É.Glissant: Kultur und Identität. Aufsätze zu einer Poetik der Vielfalt, Heidelberg 2005, 63.
[3] S. Sonntag: Against Interpretation (1961), in: Kunst und Antikunst, Frankfurt/M. 2003, 14.
[4] T.W. Adorno: Fragment über Musik und Sprache, in: Gesammelte Schriften, Bd. 16, hrsg. v. R.Tiedemann, Frankfurt/M. 1978, 251-258, 253.
[5] A. Lorde: Vertrauen, Kraft und Widerstand, Hiddensee 2015, 73.
[6] Vgl.H.-U. Gumbrecht/F.: Latenz (Hrsg.): Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften, Göttingen 2011, 14, 19.
[7] Vgl. E. Schimana (Hrsg. /Ed. ): Hidden Alliances. Versteckt Verbunden, Berlin 2019, 88-93.
[8] Vgl. Sogyal Rinpoche: Das Tibetanische Buch vom Leben und vom Sterben - Ein Schlüssel zu tieferem Verständnis von Leben und Tod, Bern/München/Wien 1997.
[9] Theresa Hak Kyung Cha, Dictee, Berkley 2001, 139., Ü.:S.L.
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