LA PAPA POSIBILE / THE POSSIBLE POTATO / DIE MÖGLICHE KARTOFFEL.
Vorbemerkungen zu Europas kulturellem Erbe und einer anderen Erinnerung
Künstlerische Forschung / Zwischenbericht, Publikation, 2025.
Claudia Pacheco Araoz & Swantje J.M. Lichtenstein
Die Kartoffel landete nicht von allein in Europa. Unser Projekt, betrifft die Kartoffel, die zum Sinnbild und Begriff deutscher Kultur wurde, indem sie die Geschichte von Kolonialisierung, Migration und Aneignung erzählt.
Im Dialog mit dem Gedanken der Mehrstaatlichkeit und der Praxis von crianza (s.u.) werden wir untersuchen, wie Europa seine eigenen Lebensformen immaterialisiert hat und sie in touristische Waren verwandelte, die ihren politischen, ökonomischen und affektiven Einfluss leugnen. Somit konnte die Fiktion aufrechterhalten werden, dass (kulturelle) Diversität nur von außen käme, dass „Sitten und Bräuche“ keinen Einfluss auf Europas Kultur und politische Gegenwart hätten.
Das Projekt startete mit einem historischen Paradox: Kartoffeln wurden, nach ihrer Verschleppung aus den Anden, zum Grundnahrungsmittel in Europa, doch ohne die dazugehörige Landwirtschaftskultur, Ritualwirtschaft und das kollektive Wissen, das sie in sich trugen mitzunehmen.
Die europäischen, kolonialen Regime zerstörten diese Kartoffelkultur materiell und symbolisch, wie sie die Unterdrückung der indigenen Art der Organisation des Lebens zerstörte und einfach das nahm, was nützlich war und die Kartoffel zum Sinnbild einer verleugneten Kultur und eines zu hinterfragenden europäischen Kulturbegriffs werden ließ, der Migration, Herkunft und Kontext der Kultur nicht erinnert.
Die Kartoffel hielt viel aus. Sie passte sich an, sie stillte den Hunger, sie diente dem Lebensunterhalt. Sie wurde zu einer anderen Kartoffel, einer die weder europäisch wurde, noch aus den Anden stammte, sie wurde einfach zu dem, was gebraucht wurde.
Ihre Kapazität Leben zu erhalten, ermöglichte es ihr zu einem Produkt zu werden, zu einem Kulturerbe, obwohl sie weiterhin von den Welten und der Kultur, der sie entstammte getrennt und entfremdet blieb. War das vielleicht sogar eine Überlebensstrategie? In eine neue Kultur hineinzuwachsen? Oder wurde sie appropriiert und kolonialisiert wie die Landräume, denen sie entstammt?
Die rituellen und ländlichen Praktiken, die die Kartoffel in Europa antraf, wurden ebenso einfach zur Seite geschoben, sie wurden als rückständig betrachtet oder ästhetisiert bzw. als Folklore bezeichnet. Die Kartoffel hat bis heute diese Doppeldeutigkeit, sie erhielt Menschen am Leben, aber sie zeigt an, dass es ihr an Kultur fehlte, in Europa wie in den Anden.
So blieb der Kartoffel nur die Kategorie der Folklore, und die war alles andere als neutral. Sie wurde benutzt, um orales, verkörpertes und relationales Wissen einzugrenzen. Die Kategorie der Folklore beschrieb die kulturell minderwertigen, dekorativen, weniger politischen Formen der Kultur im Gegensatz zur „zivilisierten“ Kultur, wie sie sich im Begriff der Hochkultur zeigten. Folklore wurde zu dem, was eingesammelt und mitgenommen werden konnte, ausgestellt oder auf die Bühne gebracht werden konnte. Darin bestand kein Schutz oder Erhalt, sondern sie bestand in Herrschaft und Eindämmung.
In Deutschland wurde zeremonielle Kleidung, landwirtschaftliche Praktiken, jahreszeitliche Festlichkeiten nicht geschützt, vielmehr mehrfach missbraucht und umkodiert. Ihre politische, ökonomische und emotionale Bedeutung wurde einerseits für faschistische Propaganda benutzt, die einen kompletten Zusammenbruch bedeutete, da der Faschismus genau an dieser Stelle ansetzte, in dem er die kulturellen, folkloristischen Gewohnheiten als nationale Identität beschrieb und die „zivilisierten“ Formen denjenigen zuschrieb, die der Faschismus dann als als „unzivilisiert“ beschrieb, vorrangig der jüdischen Bevölkerung.
Diese brutale Opferungspolitik macht sich immer noch bemerkbar und birgt bis ins 21. Jahrhundert deutlichen Missbrauch und und heftige Konfusionen. Die Konsumierbarkeit und Nutzbarkeit für propagandistische Zwecke, für populistische Agitation wird vom Erbe und den Erinnerungspolitiken ausgeschlossen und wird immer noch gerne geleugnet.
Der Entzug der Kontextualisierungen immaterialisierte das, was in Deutschland als Kultur verstanden wird, Kultur ist dann das, was neutralisiert, archiviert, theoretisiert und organisiert werden kann.
Immer noch wird Wert auf eine neue „Beheimatung“ der deutschen Kultur gelegt, um sie konsumierbar, ertragbar und vererbbar zu machen; Kultur als eine Art nationaler Identität und Pädagogik ode touristischer Attraktion, anstatt einer Lebensweise, die vererbt wird, immer noch und deutlich dadurch, dass sie den faschistischen Missbrauch natürlich überlebt hat, wie jegliche Kultur als Lebensweise, die ungeachtet aller Theoretisierung, Ästhetisierung und Archivierung weitergegeben wird.
Wie Kolonialsimus, Rassismus, Sexismus und andere intersektionale Ausschlusssysteme sind sie eher veränderbar und wandelbar, sofern sie eingestanden werden und mit ihnen gearbeitet werden kann, trotz der Schmerzen, der Scham und der Absurditäten, die sie verursachen. Die Kartoffel steht hierfür als Symbol, sie zeigt die Komplexität der kulturellen Aneignungen und ihrer Folgen an, unabhängig von den tradierten Geschichten über „deutsche“ Kultur und Erinnerungspolitik.
Aus Sicht des Globalen Südens ist diese Logik auf schmerzhafte Weise bekannt. Was als „unberührbar“ gilt, zeigt häufig eine Form der Abkehr an – eine Art Praktiken von den Menschen zu trennen, den Kontext vom Gebrauch, die Bedeutung vom Leben. Was jedoch weniger deutlich erkannt wird ist, dass Europa selbst seine eigene Lebensform immaterialisiert hat.
Dieses Projekt versucht nichts zu retten, sondern gemeinsam nachzudenken, um das System die Neutralisierung der Praktiken, die Welten tragen und in sich tragen.Es basiert auf zwei konzeptuellen Säulen: "crianza" und Mehrstaatlichkeit / Plurinationalität.
Crianza beschreibt nach dem bolivianischen Denker Rafael Bautista, nicht Bildung, sondern eine Idee das Leben in Beziehungsformen zu denken – nicht durch Lehre oder Korrektur, sondern durch Fürsorge, Nähe, das Schaffen von Bedingungen der Kontinuität. Es geht nicht darum Wissen weiterzugeben, sondern Raum zu schaffen, damit es entstehen kann.
Plurinationalität beschreibt nicht Anerkennung oder Koexistenz, sondern die politische Stärke, die in kollektiven Weisen der Lebensorganisation besteht, vor der kolonialen / modernen Welt. Es definiert Kultur neu – nicht als Identität oder Repräsenation, sondern als materielle Beziehung, geteilte Kapazität und Verantwortlichkeit. Es geht nicht darum Kultur für die Archive oder das Museum zu produzieren, sondern darum die Logik der Archive zu verlassen.
Wir nähern uns diesem Projekt über eine geteilte Befragung der Praktiken, der zum Verstummen gebrachten Erinnerungen und der politischen Möglichkeiten, die in ihnen liegen. Es ist ein Raum für crianza, - ein Weg des Miteinanderseins, des Zuhörens und der Zurückweisung das Leben in einen Handel zu verwandeln.
Die Kartoffel – als eine verschleppte, appropriierte, angepasste, lebenserhaltende Energie und Stärke – sie erlaubt uns beiden Wegen zu folgen: Sie verbindet die landwirtschaftliche Arbeitsform, Migration und das Überleben über die Kontinente hinweg. Sie zeigt aber auch, wie etwas, das als zu einer Nation kulturell dazuzugehören scheint und sogar als Synonym für eine nationale Zugehörigkeit wurde („Du Kartoffel“) in Wirklichkeit abgeschnitten wurde vom Wissen, den Menschen und der „Kultur“, der sie entstammt.
Wir werden keine Kulturstudie durchführen, wir wollen den Fragmenten und Rhythmen zuhören, die immer noch unter der Oberfläche des sogenannten Kulturerbes und der kulturellen Erinnerung sitzen. Dies ist eine politische Befragung dessen, was sich fortsetzt und was anderseits damit anzufangen ist.
Das Projekt ist als ein kollaborativer Schreibprozess strukturiert, die auf der Idee des close reading, Feldstudien und geteilten Reflexionen basieren. Wir werden uns mit existierenden Praktiken und Ideen rund um die Kartoffel beschäftigen, die immer noch existieren und nicht nur formalisierte Interviews oder Dokumentationen erstellen. Die Vorgangsweise ist somit als eine künstlerische Forschungsweise zu betrachten, die sich schriftlich, visuell, installativ und auditiv mit dem immateriellen Kulturerbe der Kartoffel auseinandersetzt sowie den bestehenden Praktiken des immateriellen Kulturerbes als Einnerungspolitik und den dazugehörigen kulturellen Rahmenbedingungen auch im Hinblick auf die Unterscheidungen der Perspektive der „Erstweltländer“ und des „Globalen Südens“.



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